Kritik an Notenpflicht im Corona-Schuljahr

In gut acht Wochen beginnen die Hamburger Sommerferien. Gleichzeitig soll es für die Schüler das ganz normale, benotete Ganzjahreszeugnis geben – zumindest, wenn es nach Schulsenator Ties Rabe geht.

Die Eltern der Grund- und Stadtteilschule Kirchwerder sehen das kritisch. Der Elternrat hat auf das Unverständnis und Kritik reagiert und nun als erste Schule Hamburgs einen offenen Brief an den Schulsenator geschickt.

Worum geht es?

Kinder und Jugendliche sind durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona Pandemie besonders betroffen. Auf der einen Seite findet seit über einem Jahr Schule im Corona Modus oft mehr schlecht als recht statt. Homeschooling lief vielerorts vor einem Jahr sehr schleppend, und je nach Lehrkraft und Fach mal besser und mal schlechter an. Im Großen und Ganzen müssen sich die Kinder Unterrichtsmaterialien autodidaktisch selbst beibringen. Sie werden versorgt mit einer Fülle von Übungsblättern. „Richtiger Unterricht“ findet aber meist, wenn es optimal läuft, nur mit einer Stunde Videokonferenz pro Tag statt (es gibt Ausnahmen, grad auch bei Privatschulen, aber bedingt durch die gleichzeitige Notbetreuung in den Schulen, können die Lehrkräfte auch schlicht einfach nicht mehr zeitlich leisten).

Unterricht per Videokonferenz ist seltener als der normale reguläre Unterricht.

Während einige Klassenstufen seit einiger Zeit wenigstens im Wechselmodell (je nach Woche 2 oder 3 Tage) zur Schule gehen können, müssen die Schüler der Jahrgänge 5 bis 8 seit Mitte Dezember durchgängig von zu Hause aus lernen.

Von der viel gerühmten Chancengleichheit unseres Schulsystems kann daher keine Rede sein. Nicht alle Kinder finden zu Hause ideale Lernvoraussetzungen vor. Nicht alle Eltern können der Aufgabe als Hilfslehrkraft nachkommen und nicht überall sind die technischen Voraussetzungen gegeben. Grad bei uns im Landgebiet ist eine schnelle und stabile Internetverbindung selbst 2021 häufig noch Mangelware.

Monatelanges Homeschooling zerrt an den Nerven von Eltern (die teils selbst gleichzeitig im Homeoffice sind oder mit Existenzängsten zu tun haben) und Kindern. Die Motivation ist auf dem Tiefpunkt: Nicht nur bei Eltern und Schülern. Auch die Lehrkräfte, die häufig selbst zusätzlich noch Kinder zu Hause im Homeschooling haben, stoßen an ihre Leistungs- und Frustrationsgrenzen durch die Doppelbelastung aus Präsenz- und Fernunterricht. In so einer Situation die Motivation und Lernbereitschaft von Schülern aufrechtzuerhalten, die damit auch unter Normalbedingungen schon Probleme haben, setzt dem ganzen noch die Krone auf.

Auf der anderen Seite kommt auf die Kinder neben dem schulischen Stress noch eine ganz andere psychische Belastung. Sie sind seit über einem Jahr in ihrer natürlichen Entwicklung durch die Pandemie gehindert. Ihnen fehlen soziale Kontakte, die so wichtig für die persönliche Entwicklung sind. Betätigungen in Sport- und anderen Vereinen finden nicht mehr statt. Sie müssen auf so vieles verzichten: kaum ein Ausflug mit der Familie ist mehr möglich, keine Klassenreisen, keine Schulausflüge, kein Schwimmunterricht, usw.

Kinder und Jugendliche müssen während der Pandemie auf vieles verzichten.

Vor all diesen Punkten verdienen die Kinder und Jugendlichen den höchsten Respekt. Nur selten haben sie mal eine Stimme in Politik und Medien. Lassen all die Einschränkungen über sich ergehen.

Den Eltern stellt sich daher ganz zu Recht die Frage, ob eine normale Benotung – unter diesen extremen Bedingungen – notwendig und überhaupt sinnvoll ist. Wie man überhaupt zu einer objektiven Benotung kommen kann, wenn man die Schüler teils mehr als ein halbes Jahr nicht gesehen hat? Sollten aber Kinder, die in dieser schwierigen Zeit keine optimalen Voraussetzungen zu Hause vorfinden, auch noch eine schlechtere Note als im Vorjahr erhalten, so wäre dies in den Augen des Elternrats ein falsches Signal.

Eine mögliche Alternative und Kompromiss: Ein unbenotetes Berichtszeugnis – ähnlich wie bis Jahrgang 3 – wo schriftlich über den Lernstand berichtet wird.

Persönliche Anmerkung: Fünf Jahre lang war ich selbst Vorsitzender des Elternrates an dieser Schule und stehe mit einigen Elternratsmitglieder auch heute noch in engem Austausch. Ich teile die Ansichten und verfolge mit großem Interesse die Entwicklung.

Digitales Entwicklungsland

Ich erinnere mich, wie ich vor 3 oder 4 Jahren auf einer Sitzung des Elternrates die Frage an die Schulleitung stellte, warum es nicht eigentlich spätestens ab Klasse 3 eine Art von Informatikunterricht gibt, wo schon mal die grundlegenden Fähigkeiten gelehrt werden. In Zeiten von Corona sieht man jetzt die Defizite. Mit großem Interesse verfolge ich auch wie in anderen Ländern das Problem mit der Beschulung während der Pandemie gelöst wird.
Positiv sehr überrascht war ich letzten Dezember, als mir meine Schwester zeigte wie professionell, umfangreich und perfekt betreut der digitale Unterricht bei meinem Neffen in den USA abläuft (normale, staatliche Schule). Durch viel zu langes diskutieren und zum Teil überzogene Datenschutzbedenken werden hierzulande gute Ansätze und Möglichkeiten behindert oder gar verhindert.
Sehr überrascht war ich auch über den Stand des digitalen Unterrichts und der Verfahrensweise in Südafrika, wo ich grad Anfang des Monats hinter die Kulissen gucken durfte. Homeschooling (in diesem Falle rede ich ebenfalls von staatlichen Schulen in Kapstadt) findet hier ähnlich wie bei uns statt, wird aber zusätzlich noch um viele Lerneinheiten in Videoform ergänzt. Um Lerndefizite auszugleichen wurden in Südafrika zusätzlich grad die Herbstferien zu einem Teil gestrichen, damit Unterrichtsstoff nachgeholt werden kann.

Doch all diese technischen Möglichkeiten ersetzen nicht die soziale Komponente durch gemeinsames Lernen und soziale Kontakte. Auch sind diese technischen Möglichkeiten nur dann umsetzbar, wenn die technische Infrastruktur gegeben ist. Solange aber Schulserver unter dem Andrang zusammenbrechen oder Aussetzer in den Videokonferenzen passieren, weil die Internetverbindungen im Landgebiet vielerorts nicht schneller als Rauchzeichen sind, solange Lehrkräfte eine unterschiedliche Qualität von Homeschooling anbieten und die Chancengleichheit für die Schüler nicht gewährleistet ist, solange halte ich eine Notengebung unter Corona Bedingungen für nicht praktikabel.